30.06.2021
In einer gemeinsamen Stellungnahme plädiert der Verband Deutscher Kunsthistoriker zusammen mit anderen wissenschaftlichen Fachverbänden dafür, die derzeitige Befristungspraxis für promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler grundlegend zu überdenken. Der Verband Deutscher Kunsthistoriker hatte auf die schwerwiegenden Probleme des sog. wissenschaftlichen Nachwuchses bereits im Januar 2021 mit einer eigenen Stellungnahme hingewiesen. Wir freuen uns, dass das Anliegen von weiteren Fachverbänden geteilt wird. Die gemeinsame Stellungnahme ist hier abrufbar.
Zum Hintergrund
Die jüngsten Diskussionen um befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft haben die breitere Öffentlichkeit auf ein Problem aufmerksam gemacht, das keineswegs neu ist, sich aber zunehmend verschärft: Unter promovierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben befristete Arbeitsverhältnisse ohne klare, geregelte Aussicht auf Entfristung inzwischen ein Maß angenommen, das nicht nur den Betroffenen, sondern den Wissenschaften selbst erheblich zu schaden droht. Trotz der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes im Jahr 2016 arbeiten weiterhin ca. 90 % des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals an Hochschulen im Rahmen von befristeten Arbeitsverträgen, deren durchschnittliche Laufzeit bei etwa zwei Jahren liegt. Beim sog. wissenschaftlichen Nachwuchs (bis zum Alter von 45 Jahren, ohne Professorinnen und Professoren) liegt der Anteil mit 92 % nochmals höher. Zudem ist die Gesamtzahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dem sog. Nachwuchs zugerechnet werden, seit 2005 erheblich angestiegen (vgl. den Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021).
Ein nicht unerheblicher Teil dieser Arbeitsverhältnisse entfällt auf promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Während Doktorandinnen und Doktoranden mit der Promotion einen Abschluss erwerben, der sie auch für andere attraktive Berufsfelder und Tätigkeiten außerhalb der Hochschulen und Forschungsinstitute qualifiziert, ist die Qualifikation, die sich mit Beschäftigungsverhältnissen von Promovierten verbindet (d. h. Habilitation, Junior-Professur, Forschungsgruppenleitung oder dergleichen), in der Regel nur dann sinnvoll und zielführend, wenn sie in eine dauerhafte, entfristete Beschäftigung in der Wissenschaft mündet. Dafür stehen den vielen befristet beschäftigten promovierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern jedoch deutlich zu wenige entfristete Dauerstellen zur Verfügung. Bei den berechtigten Klagen über die aktuelle Situation handelt es sich daher weder um eine bloße Variation des altbekannten Motivs, dass eine wissenschaftliche Laufbahn „ein wilder Hazard“ (Max Weber) sei, noch artikuliert sich in ihnen der vermeintlich vermessene Anspruch einer bestimmten Interessensgruppe auf eine möglichst bequeme Versorgung. Was unter Stichworten und Hashtags wie #95vsWissZeitVG oder #ichbinhanna diskutiert wird, spiegelt vielmehr eine grundlegende Dysfunktionalität verbreiteter Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft, die sich mit der gestiegenen Bedeutung der drittmittelfinanzierten Forschung zusätzlich verschärft hat.
Die aktuelle Beschäftigungssituation an Hochschulen und Forschungsinstitutionen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zahl der entfristeten Stellen und der befristeten Arbeitsverträge für Promovierte in einem massiven Missverhältnis zueinander steht und dass viele Daueraufgaben in Lehre, akademischer Selbstverwaltung und Forschung von befristetet Beschäftigten geleistet werden. Vor allem aber sind angesichts dieser Lage zahlreiche hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über lange Zeit hinweg mit der Sorge konfrontiert, dass sich ihre nach der Promotion erworbene Qualifikation als weitgehend vergeblich erweist, sofern es ihnen nicht gelingt, eine der vergleichsweise wenigen Dauerstellen zu erlangen. Die Gefahren und negativen Effekte dieser Situation sind breit dokumentiert, weshalb hier nur einige Aspekte angeführt seien:
Im Lichte der skizzierten Probleme liegt es auf der Hand, dass die derzeitige Befristungspraxis die Produktivität und erfolgreiche Weiterentwicklung der Wissenschaft im Ganzen belastet. Die anstehende Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sollte daher zum Anlass genommen werden, grundlegend über die Rahmenbedingungen von Karrierewegen in der Wissenschaft nachzudenken. Mit einer weiteren Anpassung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes allein lassen sich die drängenden Probleme nicht beheben.
Die Diskussionen der letzten Wochen und Monate haben aber auch gezeigt, dass eine durchgreifende Lösung nicht allein von einem Akteur im Wissenschaftssystem erwartet werden kann: Weder der Bund noch die Länder oder die Hochschulen und Forschungsinstitute können allein eine umfassende befriedigende Neuordnung der Beschäftigungsverhältnisse für Promovierte in der Wissenschaft herbeiführen. Der Verband Deutscher Kunsthistoriker plädiert daher nachdrücklich dafür, dass eine solche Neuordnung in einem engen, ergebnisorientierten Dialog von Vertreterinnen und Vertretern der Bundespolitik, der Landespolitik, der Hochschulen und Forschungsinstitute sowie der Organisationen der Forschungsförderung erarbeitet wird. Fachverbände und Fachgesellschaften sollten in einen solchen Prozess ebenso einbezogen werden wie Vertreterinnen und Vertreter des sog. wissenschaftlichen Nachwuchses.
Zentrales Ziel einer Neuordnung der Beschäftigungsformen in der Wissenschaft sollte es sein, dass promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im weit überwiegenden Regelfall in Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, die entfristet sind oder eine klare und geregelte Entfristungsoption aufweisen. Dabei sollte gewährleistet werden,
Anzustreben ist nicht allein, dass Beschäftigungs- und Laufbahnmodelle etabliert und umgesetzt werden, die diesem Anspruch gerecht werden, sondern dass diese Modelle innerhalb der Wissenschaft zum weit überwiegenden Regelfall werden. Daher ist bei den Überlegungen von Beginn an auch die drittmittelgeförderte Forschung einzubeziehen. Während für den Bereich der Beschäftigungen, die aus den Haushalten der Hochschulen und Forschungsinstitute finanziert werden, konkrete Modelle und langjährig praktizierte Vorbilder vorliegen (zu denken ist an Beschäftigungsformen in den USA, in Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern sowie an das sog. Departmentmodell), gilt es für die drittmittelfinanzierte Forschung Lösungen zu entwickeln, mit denen sich sinnvolle Projektbefristungen und problematische Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen entkoppeln lassen. Die gravierenden Probleme sollten daher auch zum Anlass genommen werden, um grundlegend über das Verhältnis von Grundfinanzierung und Drittmitteln nachzudenken.
Damit deutet sich an, dass das Drehen an einzelnen Stellschrauben des deutschen Wissenschaftssystems nicht ausreichen wird, um einem Zustand Abhilfe zu verschaffen, der die Qualität der Forschung nachhaltig und folgenreich belastet. Wissenschaft ist jedoch zu wichtig, als dass wir es uns leisten könnten, sie dauerhaft als eindrückliches Beispiel für prekäre Arbeitsbedingungen erscheinen zu lassen. Ihr hoher Wert sollte uns eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten wert sein.
gez.
Prof. Dr. Kilian Heck
(Erster Vorsitzender)
gez.
Prof. Dr. Iris Wenderholm
(Zweite Vorsitzende)
gez.
Prof. Dr. Johannes Grave
(Repräsentant der Berufsgruppe Hochschulen und Forschungsinstitute)